Saturday 13 February 2016

Le fabuleux destin d'Amélie Poulain (2001)

Phantasievolle Liebeserklärung an introvertierte Träumer

Willkommen in Amélie Poulains (Audrey Tautou) fabelhafter Welt: Hier gehen Gartenzwerge auf Weltreise, Gespenster suchen Foto-Automaten heim und belanglose Details werden zu wundersamen Ereignissen. Amélie ist eine hochsensible Träumerin, die den Kontakt zu anderen Menschen meidet. Eines Tages aber beschliesst sie, sich in das Leben ihrer Mitmenschen einzumischen. Als unsichtbarer Schutzengel steht sie ihrem Bekanntenkreis zur Seite. Sie verkuppelt zwei Besucher des Cafés, in dem sie arbeitet. Sie weckt die Reiselust ihres apathischen Vaters. Und sie rächt sich an einem gemeinen Obsthändler. Nur sich selbst in ihrer Einsamkeit scheint sie nicht helfen zu können. Aber vielleicht findet sie durch ihre neue Berufung zu ihrer grossen Liebe? Vielleicht.

Le Fabuleux Destin d'Amélie Poulain ist eine visuelle Tour de Force. Die Farbgebung ist prägnant, fast schrill. Vor allem Grün-, Gelb- und Rottöne herrschen vor. Die Kamera von Bruno Delbonnel (Inside Llewyn Davis, Harry Potter and the Half-Blood Prince) ist omnipräsent: Sie rüttelt schroff umher und schwebt elegant um Amélie herum, je nach Situation. Mitunter ist der Schnitt schwindelerregend erratisch. Regisseur Jean-Pierre Jeunet (Alien: Resurrection) versteht es virtuos, Amélies fabelhafte Welt auch formal sichtbar zu machen. Jeunet ist bekannt für seinen quirligen, auffälligen Stil. Stand dieser Stil in der Dystopie Delicatessen (1991) noch im Zeichen des schwarzen Humors, zelebriert er in Amélie der Romantik. Müsste man dem Film ein Genre zuteilen, wäre es wohl die romantische Komödie, allerdings eine mit makaberen und karikaturistischen Zügen.

Vordergründig ist Amélie vor allem eines: Süss. Ein Erzähler kommentiert die Geschichte Amélies wie ein Märchenonkel. Amélies Welt ist ein Universum kleiner Freuden; etwa, wenn sie mit dem Löffel Crème brûlée aufbricht, oder wenn sie gespannt die Gesichter der Zuschauer im Kino betrachtet. Audrey Tautou (The Da Vinci Code) selbst ist der Inbegriff der schüchternen, liebenswerten Träumerin. Sie verbindet die Eleganz einer Audrey Hepburn mit dem Charme des Mädchens von nebenan. Tautou trifft nicht nur die humoristischen, sondern auch die dramatischen Töne meisterhaft.

Die Gefühle Amélies werden zuweilen wortwörtlich visualisiert. Wenn ihr Herz rast, werfen wir einen Blick in ihren Brustkorb. Wenn sie vor Verliebtheit zerschmelzt, dann muss man sie nachher vom Boden aufwischen. Und die Wolken sehen nicht nur aus wie Hasen oder Bären, sie sind es tatsächlich. Ihr Rachefeldzug gegen den Obsthändler erreicht in seiner Kindlichkeit beinahe  das „Niveau“ von Chris Columbus’ Home Alone (1990).

Doch ist der Film nicht gänzlich unverdorben: Thanatos und Eros sind überall sichtbar. Wann immer es um den Tod geht, kommt Jeunets schwarzer Humor zum Tragen: Amélies Mutter etwa stirbt, weil sich eine Selbstmörderin von einer Kirche stürzt und auf sie fällt. Die Sexualität tritt als Antithese zu Amélies Liebesbegriff auf. Für den menschlichen Trieb hat sie nur höchstens ein verständnisvolles Lächeln übrig. Wenn sie sich wundert, wie viele Menschen in Paris einen Orgasmus haben, tut sie dies mit distanzierter Verträumtheit. In einer Schlüsselszene verschmelzen Tod und Sexualität: Amélie verfolgt Nino (Mathieu Kassovitz), den Mann ihrer Träume, in eine Geisterbahn. Dort tritt er ihr als Skelett entgegen und versucht ihr mit tiefem Stöhnen Angst einzujagen. Eine Szene von schauderhafter Erotik. Der Tod und die Sexualität werden ständig mit behandelt, als verdrängte und ironisierte Instanzen.

Das Hauptthema des Filmes wird hingegen direkt ausgesprochen und behandelt: Es geht darum, dass Amélie ihre eigenen Wünsche verleugnet, indem sie sich in ihrer Traumwelt verliert. Den Kontakt zu anderen kann sie nur knüpfen, indem sie sich elaborierte und exzentrische Pläne zurecht legt. Amélies Nachbar Raymond Dufayel (Serge Merlin) wirft ihr diese Unzulänglichkeiten unverblümt an den Kopf. Aber auch dieser Konflikt wird überzeichnet: In einer wunderbar selbstironischen Szene betrauert Amélie ihren eigenen, angeblichen Tod – und stilisiert sich zu einer selbstlosen Märtyrerin, die sie offensichtlich nicht ist. Das Motiv des Filmes ist weder neu noch tiefgründig, doch erhält es durch Selbstreflexion eine leichtfüssige Gangart. Es ist, als würde der Film sagen: „Ja, diese Geschichte mag einfach gestrickt sein. Aber sie ist phantastisch, nicht wahr?“

Sie ist wahrhaft phantastisch, diese Geschichte. Le Fabuleux Destin d'Amélie Poulain hat mir einst beigebracht, wie magisch das Kino sein kann. Bis heute gehört er zu meinen Lieblingsfilmen. Wann immer Amélie im Fluss Schiefersteine springen lässt, begleitet von Yann Tiersens zauberhafter Musik und Bruno Delbonnels schwebender Kamera, muss ich die Tränen zurückhalten. Ich weiss nicht, wieso. Ich weiss nur: Amélie eine der Gründe, weshalb ich das Kino heute so liebe.

Wer so tief in die Welt einer Hochsensiblen eintaucht, macht sich ästhetisch verletzbar. Der Stil dieses Filmes liesse sich durchaus als manieriert und naiv anprangern. Als herausragendes Kunstwerk kann man Amélie letztlich nicht bezeichnen; dazu ist der Plot dann doch zu gradlinig. Dennoch handelt es sich um ein Meisterstück des Kinos. Amélie ist eine phantasievolle Liebeserklärung an introvertierte Träumer: keineswegs makellos, aber erfrischend, bunt und gedankenvoll wie ein sonniger Herbsttag.

10/10

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