Wednesday 17 February 2016

Mein Nachbar Totoro (1988)

Nostalgische Reise in die Wunderwelt der Kindheit

Die Schwestern Mai und Satsuki ziehen mit ihrem Vater in ein altes, verlottertes Haus auf dem Lande. Während sich ihre Mutter im örtlichen Krankenhaus von einer schweren Krankheit erholt, erforschen Mai und Statsuki den nahe gelegenen Wald. Dort entdecken sie eine wundersame Kreatur namens Totoro. Der flauschige, sanfte Riese steht den Schwestern in so mancher schwierigen Situation zur Seite. Er leistet ihnen Gesellschaft, als sie im Regen auf ihren Vater warten; er schenkt ihnen Nüsse und lässt sie zu einem prächtigen Baum gedeihen. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Kinder nach der Rückkehr ihrer Mutter sehnen. Die wachsende Angst vor dem Tod ihrer Mutter bringt die kleine Mai letztlich selbst in Gefahr. Kann Totoro auch hier aushelfen?

Mein Nachbar Totoro (jap. Tonari no Totoro) ist ein früher Spielfilm des Anime-Meisters Hayao Miyazaki (Prinzessin Mononoke, Chihiros Reise ins Zauberland). Er wurde 1988 zusammen mit Isao Takahatas Die letzten Glühwürmchen in Doppelvorstellungen gezeigt. Beide Zeichentrickfilme drehen sich um ein junges Geschwisterpaar; während Takahatas schonungslos das Schicksal zweier japanischer Kinder im Zweiten Weltkrieg darstellt, entführt Miyazaki in eine märchenhafte Wunderwelt nach dem Krieg. Das Setting könnte unterschiedlicher nicht sein, doch eines ist beiden Filmen gemeinsam: ihre Übernahme der kindlichen Perspektive ist so kunstvoll wie lebensnah.

Mein Nachbar Totoro spielt in einer ländlichen Idylle, in der die Natur noch in Einklang mit der menschlichen Kultur existiert. Das Haus, das der Vater der beiden Schwestern jüngst gekauft hat, ist verwahrlost. Kleine Russmännchen haben sich in ihm eingenistet. Aufgescheucht von Mai und Satsuki, ziehen sie aus. Interessant ist, wie dieses phantastische Element in die alltägliche Szenerie eingewoben wird: Der Vater scheint keinen Augenblick daran zu zweifeln, dass seine Töchter Russmännchen gesehen haben. Ob er die Phantasie seiner Kinder fördern will, oder ob die wundersamen Kreaturen in dieser Filmwelt schlicht Realität sind, lässt Miyazaki offen. Die Erwachsenen kommen mit der Märchenwelt jedenfalls nicht in Berührung. Der Film spannt einen feinen Grat zwischen Realität und Traum. Miyazaki tänzelt so geschickt auf diesem Grat, dass es Kindern und Erwachsenen gleichermassen bezaubern dürfte.  

In vielen Belangen erinnert der vorliegende Film an Miyazakis späteres Meisterwerk Chihiros Reise ins Zauberland (2001), das mit einem Academy Award sowie den Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet worden ist. Einige Grundthemen in Joe Hisaishis Soundtrack kehren 2001 wieder, und auch die Russmännchen spielen erneut eine Nebenrolle. Es gibt allerdings einen bedeutenden Unterschied. Das Zauberland in Chihiro verwandelt die Hauptfigur in eine Erwachsene; es ist ein Übergangsstadium. Dagegen ist das Zauberland in Totoro von Nostalgie beseelt. Hier geht es nicht ums Erwachsenwerden, sondern ums Kindsein. Hier schlägt die Phantasie der Realität ein Schnippchen. Miyazaki erlaubt seinen Hauptfiguren das Träumen, das kleine Wunder vollbringt; und das Publikum träumt selig mit.

Technisch ist vor allem bemerkenswert, wie lebendig die Mädchen Mai und Satsuki gezeichnet wurden. Ihre Bewegungen wirken natürlich und glaubwürdig. Man merkt, dass in die Animation der beiden Hauptfiguren viel Sorgfalt und Liebe gesteckt wurde. Miyazakis unnachahmliches Gefühl für Atmosphäre darf ebenfalls nicht vergessen werden; wie ein Traumwandler scheint er intuitiv zu wissen, wann er einen Schritt zu weit, wann einen zu wenig geht. Beinahe ohne Erklärungen und scheinbar ohne Aufwand schafft Miyazaki ein schlüssiges Universum. Mein Nachbar Totoro lässt sich Zeit für friedliche, ereignislose Szenen, die unter einem ABC-Drehbuchautoren bestimmt dem Rotstift zum Opfer gefallen wären. Allein die Szene, in der Mai und Satsuki mit Totoro an der Bushaltestelle stehen, ist ein kleines Kunstwerk von unerklärlichem Charme.

Mein Nachbar Totoro ist eine nostalgische Reise in die Wunderwelt der Kindheit und ein friedvolles, herzerwärmendes Familienportrait. Nicht nur in den phantastischen, sondern auch in den alltäglichen Szenen beweist sich Hayao Miyazaki als kunstvoller Regisseur, von denen gerne auch Realfilmer etwas lernen dürfen. Was Miyazaki Œuvre betrifft, wird Mein Nachbar Totoro wird nur noch von Chihiros Reise ins Zauberland (2001) und Prinzessin Mononoke (1997) übertroffen.

9/10

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