Wednesday 11 May 2016

Under the Sun (2015)

Auf der Suche nach dem Menschen in der Masse

Im Rahmen seines Dokumentarfilms Under the Sun erhält der russische Regisseur Vitaliy Manskiy einen exklusiven Einblick in den Alltag Nordkoreas. Seine Filmcrew begleitet eine dreiköpfige Familie aus der Hauptstadt Pjöngjang: die Tochter, wie sie in die Schule geht, Tanzunterricht erhält und der so genannten „Children’s Union“ beitritt; die Arbeit des Vaters in einer Textilfabrik; und die Tätigkeit der Mutter bei der Milchproduktion. Die Aufnahmen Manskiys werden indes von Repräsentanten der nordkoreanischen Diktatur überwacht. Diese Männer geben der Familie vor, was sie zu tun, zu lassen und zu sagen haben. Under the Sun zeigt somit nicht nur das Bild, das die staatliche Propaganda von Nordkorea vermitteln will. Manskiy zeigt auch, wie dieses Bild während der Dreharbeiten entstanden ist. Das führt zu einer ironischen Brechung, die nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch hochinteressant ist.

Under the Sun ist ein subversiver Dokumentarfilm. Er kommentiert und karikiert die Selbstdarstellung Nordkoreas durch eine Reihe stilistischer Mittel. Die Alltagsszenen in Pjöngjang werden in einen düsteren Blauton getaucht, während propagandistische Szenen kitschig bunt wirken. Immer wieder spielt melancholische Musik, und manchmal wird auf einen Gegenstand mit Symbolkraft geschnitten, etwa auf eine monoton flackernde Strassenlampe. Die Anweisungen der staatlichen Aufseher sind mitunter unfreiwillig komisch; zum Beispiel dann, wenn ein Kriegsveteran ungeduldig dazu aufgefordert wird, er solle seinen langatmigen Vortrag endlich beenden. Gewiss sind diese „Behind the Scenes“-Stellen die knalligsten Pointen des Filmes. Manskiy reitet denn auch etwas zu oft und zu lange auf ihnen herum.

Wirklich faszinierend sind die Szenen, die Manskiy (scheinbar) unkommentiert sich entfalten lässt. Wenn Schulkinder in einer steifen Zeremonie in die Children’s Union aufgenommen und dadurch zwangsweise verpolitisiert werden, dann wird einem richtig mulmig zumute. Die Tatsache, dass Kim Jong-uns Grossvater Kim Il-sung wahlweise als Staatsmann, Philosoph oder geradezu als Heiliger verehrt wird, tut ihr Übriges. Under the Sun inszeniert Nordkorea als eine völlig fremde, groteske Welt, die mit demokratischen Massstäben nicht ansatzweise verständlich werden kann. Der Film macht diese Fremdheit fühlbar. Allerdings verzichtet Manskiy lobenswerterweise darauf, aus dem Unverständnis eine grossspurige Geste der Kritik zu entfalten.

Über das Politische hinaus ist der Dokumentarfilm eine Suche nach dem Menschen in der Masse. „Wer ist diese Familie, die die Partei mir hier vorgesetzt hat?“, scheint sich Manskiy unablässig zu fragen. „Sind diese Leute mehr als die Funktion, die Nordkorea für sie vorgesehen hat?“ Im Wesentlichen ist Under the Sun eine händeringende Verneinung dieser Frage. Die Menschen scheinen lediglich Teil eines grossen Gefüges zu sein, das aus einem Munde spricht. Für Individualität gibt es hier keinen Platz. Wichtig ist nicht, was der Einzelne tut. Wichtig ist, was alle gemeinsam tun. Wenn die portraitierte Familie einmal nur zu dritt erscheint, dann wirkt sie verschwindend klein in der pompösen Architektur Nordkoreas – oder sie wird von den staatlichen Aufsehern bevormundet. Die Mimik der Nordkoreaner wirkt leblos, stoisch und künstlich; ihre wahren Gedanken bleiben uns verschlossen.

Was halten die Leute von der Situation in ihrem Lande, die uns so bizarr erscheint? Eine Antwort darauf sucht Manskiy in den Gesichtern der Kinder. Diese wirken stellenweise gelangweilt, müde und genervt. Oft lässt sich die Miene der Schülerinnen und Schüler jedoch überhaupt nicht deuten. Überdeutlich ist allerdings der Schluss des Filmes: In einem Interview beginnt die Tochter der portraitierten Familie zu weinen. Eine Frau aus dem Off fordert das Kind auf, an etwas Schönes zu denken. Hilflos fragt das Mädchen: „Was?“ Darauf haben weder die erwachsene, noch die junge Nordkoreanerin eine echte Antwort. Zuflucht bieten einzig die historischen Fakten über Kim Il-sung, die sich das Kind schliesslich wie ein Gebet vor flüstert …

Under the Sun ist ein beunruhigender Einblick in eine fremde Welt. Er wirft ein Licht auf die Mechanismen der politischen Selbstdarstellung, die den Film selbst zu infiltrieren versuchen. Insofern Manskiy dieser Infiltration widersteht, ist Under the Sun ein politischer, ironischer Kommentar. Insofern er sie zulässt, gibt uns der Film eine Ahnung von der Selbstwahrnehmung Nordkoreas. Und insofern Manskiy auf der Suche nach dem Menschlichen scheitert, müssen wir erkennen, dass es auch andere Auffassungen des „Menschseins“ gibt.


9/10

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