Saturday 14 May 2016

Wie der Wind sich hebt (2013)

Über die dunkle Seite des Traumes

Schon als Kind träumt Jirō Horikoshi den Traum vom Fliegen. Die Konstruktionsweise von Flugzeugen fasziniert ihn mehr, als alles andere. Im Studium entpuppt er sich als genialer Ingenieur, und bald macht er Karriere bei der Firma Mitsubishi. In den frühen 1930er-Jahren reist Jirō nach Deutschland. Mit Schrecken stellt er fest, dass die Technik der Nazis derjenigen Japans um Jahre voraus ist. Jirō macht sich daran, die Flugzeuge seines Landes zu revolutionieren. Daneben hat er mit einer persönlichen Krise zu kämpfen: Seine Ehefrau Naoko leidet unter Tuberkulose, was einen düsteren Schatten auf ihre Beziehung wirft. Ob beruflich oder privat, Jirō findet stets Trost in seiner Phantasie. So verdrängt er nicht nur den drohenden Krieg, sondern auch die Krankheit seiner Liebsten …

Wie der Wind sich hebt ist das untypische, doch auch bezeichnende Abschlusswerk Hayao Miyazakis. Untypisch ist es deshalb, weil es klar in der Realität angesiedelt ist und von einer historischen Persönlichkeit erzählt. Bezeichnend ist es insofern, als es eine letzte Reflexion über die Phantasie ist, die bei Miyazaki stets eine wichtige Rolle gespielt hat. Immer wieder träumt Jirō vom italienischen Ingenieur Giovanni Caproni, der ihn in seiner Vision des Flugzeugbaus bestärkt. Caproni meint: Es ist viel schöner, Flugzeuge zu erdenken, als sie zu fliegen. Die Theorie übertrumpf sozusagen die Praxis. Wenn Jirō am Schreibtisch statische Berechnungen ausführt, dann stellt er sich plastisch vor, wie er in die Lüfte steigt. Ein Flugzeug, so Caproni, ist nicht nur definiert über seinen Zweck, sondern auch über seine ästhetische Form. In Jirōs Träumen dienen die Flugzeuge einem friedlichen Zweck; anmutig und frei schweben die Gefährte durch die hellen Lüfte. Jirō Schwärmerei überdeckt völlig die eigentliche Funktion der Flugzeuge, die er gestaltet. Denn Mitsubishi arbeitet im Auftrag der japanischen Armee, und Jirōs Kreationen sind für den Einsatz im Zweiten Weltkrieg bestimmt.

Dass Jirōs Träume über die Realität des Krieges hinweg täuschen, ist moralisch höchst problematisch. Der junge Japaner arbeitet an Waffen der Zerstörung, während seine Gedanken in einer Idylle gefangen sind. Fraglich ist, inwiefern man die Verblendung der Hauptfigur dem Film selbst vorwerfen kann. Richtig ist, dass Miyazaki seine unglaubliche Vorstellungskraft hier in den Dienst eines Verklärungs- und Verdrängungsprozesses stellt. Allerdings wird diese Verdrängung im Film durchaus deutlich: Die Flugzeuge erscheinen stellenweise als Instrumente des Todes, und die Kriegssituation wird nicht verleugnet. Letztlich aber triumphiert die bestechende Phantasie über die brutale Wirklichkeit; der Krieg bleibt ein störendes Hintergrundrauschen, das Jirō nicht an sich heranlässt. Es ist schon fraglich, ob Miyazaki diesen Prozess hinreichend durchdacht hat. Eine gewisse politische Naivität muss man Wie der Wind sich hebt wohl oder übel attestierten.

Ungewöhnlich ist, dass Wie der Wind sich hebt zum Intellektualisieren neigt. Wer hätte gedacht, dass es jemals einen Miyazaki-Film geben würde, in dem Paul Valéry und Thomas Mann zitiert werden? Manche Szenen kommen mit einer Ernsthaftigkeit daher, die im Kontext von Miyazakis Schaffen fast befremdlich wirkt: So etwa wie Darstellung des Kantō-Erdbebens von 1923. Die Katastrophe selbst inszeniert Miyazaki als gewaltiges Naturereignis mit mythischen Anklängen. Die Auswirkungen des Bebens sind allerdings einem eindrücklichen Realismus verpflichtet. Solche Szenen bringen eine grimmige Seite des Anime-Altmeisters zum Vorschein. Es ist eine, die wir nur selten gesehen haben; am ehesten noch bei Prinzessin Mononoke (1997), dort allerdings in einer dezidierten Fantasy-Umgebung.

Auch die Liebesgeschichte zwischen Jirō und Naoko spielt sich auf der Achse zwischen Traum und Wirklichkeit ab. Um zu genesen, sollte Naoko eigentlich ein Sanatorium in den Bergen besuchen. Doch die frisch Vermählten wollen zusammen leben und sich nahe sein; das bedeutet allerdings, dass Naoko ihrem Mann etwas vorspielen muss. Sie ist längst nicht so gesund, wie sie vorgibt, zu sein … Krieg und Krankheit: Vor den beiden grossen Krisen seines Lebens verschliesst Jirō die Augen. Die Beziehung zwischen Jirō und Naoko geht durchaus zu Herzen, auch wenn sie gegen Ende fast kitschig wird. 

Technisch gesehen ist Wie der Wind sich hebt atemberaubend. Nie sah ein Miyazaki-Film so geschmeidig, klar und rund aus. Der Soundtrack hat einen europäischen Anklang. Bestimmte Stücke des Komponisten Joe Hisaishis erinnern allerdings stark an frühere Ghibli-Filme. Der historische Kontext raubt Miyazaki ein bisschen seinen Zauber; seine Kunstgriffe werden mitunter durchschaubar. Es ist, als formte sich hier eine neue Herangehensweise, die noch nicht ganz ausgereift ist. Fast wünscht man sich, Miyazaki schritte noch entschiedener in Richtung Realismus. 

Wie der Wind sich hebt ist eine leise Enttäuschung. Der Film geht in eine vielversprechende Richtung, steht aber etwas unbeholfen auf den Beinen. Fast ist man versucht zu glauben, Miyazaki entzaubert seinen eigenen Stil, indem er sich dem frühen Isao Takahata (Die letzten Glühwürmchen, 1988; Tränen der Erinnerung, 1991) annähert. Das ist wohl interessant; doch wo Miyazaki noch an seinen phantastischen Szenen festhält, geraten sie gefährlich nahe ins Fahrwasser des Kitsches und der Naivität. Trotzdem ist Wie der Wind sich hebt ein bemerkenswerter Zeichentrickfilm über das widersprüchliche Leben eines genialen Träumers. Und war Hayao Miyazaki in seinen besten Filmen nicht genau dies: ein träumendes Genie? Insofern ist es vielleicht sogar passend, dass sein Abschlusswerk – ob bewusst oder nicht – die dunkle Seite des Traumes offenlegt.


8/10

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