Sunday 4 September 2016

Polder (2015)

Erste Gehversuche im filmischen Schlafwandeln

Marcus (Christoph Bach) ist ein Nerd: Er liest schmuddelige Comics aus Japan und gehört zu den begabtesten Programmierern auf diesem Planeten. Eines Tages erfindet er das so genannte „Rote Buch“, das die Geschichte der Menschheit für immer verändern sollte. Dieses Buch lässt die Grenze zwischen Phantasie und Realität verschwimmen. Die Menschen können sich in eine Parallelwelt einloggen und dort an einem „Game“ teilnehmen. Sie sind die Hauptfiguren in ihrem eigenen Film; alle anderen sind nurmehr seelenlose Statisten. Marcus erkennt früh, dass seine Erfindung brandgefährlich ist. Doch die skrupellose Firma NEUROO-X will davon nichts wissen. Sie räumt Marcus kurzerhand aus dem Weg. Dann setzt sie alle Hebel in Gang, das Rote Buch grossflächig zu vermarkten. Die Welt steht kurz davor, sich in eine irreale Hölle zu verwandeln. Nur eine Frau kann dieses Schicksal noch abwenden: Es ist Marcus’ Ehefrau Ryuko (Nina Fog). Sie macht sich auf, die unmenschlichen Machenschaften der NEUROO-X aufzudecken – und riskiert dabei nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihres Sohnes Walterli (Pascal Roelofse).

Julian Grünthals und Samuel Schwarz’ Polder ist zunächst ein multimediales Experiment. Der Zuschauer wird dazu eingeladen, eine Polder-App herunterladen. Mit ihr kann er durch die Räume des Kinos schreiten, während eine Stimme ihm allerlei einflüstert. Vor, während und nach der Vorführung bewegen sich ausserdem Statisten durch das Kino. Die Idee dahinter ist, den Kinobesuch zu fiktionalisieren; als wäre er nur ein erträumtes Ereignis; als wären die Zuschauer selbst bereits ein Teil des „Games“. Ist das eine nette Idee, die das Kino wieder zu einem Erlebnis macht? Oder ist es ein unnötiges Gimmick? Beide Einschätzungen haben ihre Berechtigung.

Wie steht es nun mit dem eigentlichen Werk? Die Stimme aus der App behauptet, der nachfolgende Film wäre „hochintelligent“ und teilweise „unverständlich“. Aber wir müssten nicht alles verstehen; wir seien ja doch nur Menschen. Prompt machte ich mich auf einen verkopften Arthouse-Movie gefasst; aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn der Plot von Polder ist eigentlich problemlos nachvollziehbar: Er erzählt von einer Frau, die gegen eine böse Firma kämpft. That’s it. Ach nein, doch nicht ganz: Denn nebenbei werden etliche Wirklichkeitsebenen heraufbeschworen. „Ein Traum im Traum im Traum.“ Oder: „Ein Film im Film im Film.“ Das scheint das Motto von Polder zu sein. Diese Verschachtelung funktioniert zu Beginn noch ganz gut. Gegen Ende fühlt man sich bisweilen allerdings etwas veräppelt, da sich die Ebenen bis ins Unendliche zu erweitern scheinen. Jedoch wird auch deutlich, dass sich der Film nicht immer ganz ernst nimmt. So kann Polder fast als Parodie auf Christopher Nolans pseudo-intellektuelles Traum-Babuschka Inception gelesen werden.

Manche Stellen versprühen echte Trash-Funken: Etwa dann, wenn eine Karikatur von Friedrich Nietzsche wie ein Arnold Schwarzenegger um sich ballert. Die Action ist zuweilen in bester Videospiel-Optik gehalten. Einige Szenen scheinen dem feuchten Traum eines Manga-Lesers entnommen; Cosplay und Yuri gehen hier Hand in Hand. Und wenn’s gruselig wird, denkt man schnell an japanische Horrorfilme à la Hideo Nakatas Ringu. Grünthal und Schwarz haben ein buntes Kabinett aus der Nerd-Kultur zusammen gestellt. Zu ihm gesellen sich Querverweise auf kitschige Schweizer Kinderfiguren: Walterli und Heidi.

Ein ziemliches Mischmasch an Zitaten also, ein buntes Chaos an Bildern. Da wundert man sich, ob das funktionieren kann. Es kann; asiatische Regisseure wie Tetsuya Nakashima (Memories of Matsuko), Katsuhito Ishii (The Taste of Tea) und Park Chan-wook (I’m A Cyborg, But That’s OK) haben es vorgemacht. Nun versuchen der Deutsche Grünthal und der Schweizer Schwarz nachzuziehen. Aber: Gelingt es ihnen auch? Tatsächlich, es gelingt. Teilweise; nämlich dann, wenn der Ernst der Albernheit weicht. Was die oben genannte Filme so anziehend macht, ist ihr Talent, das Arthouse mit ausgeklügelten Blödeleien zu untergraben. Ja, was sie zeigen, ist schräg. Aber dahinter muss keine tiefere Bedeutung stecken; es kann einfach nur Spass machen. Grünthal und Schwarz fehlt diese kindliche Leichtfüssigkeit. Die ironische Distanz zum Gezeigten ist noch nicht absolut. Immer noch geht es um „den Menschen“. Immer noch geht es um die Frage, was „wirklich“, was „erträumt“ ist. Begriffe über Begriffe! Wie öde.

Dieser Film denkt noch zu viel. Er kann noch nicht schlafwandeln. Dennoch: Der erste Gehversuch ist respektabel. Solche Filme tun der deutschsprachigen Filmszene gut. Sie sind keine Meisterwerke. Aber sie üben sich in der Kunst, albern zu sein. Polder verliert sich in seinen unzähligen Ebenen. Er ist ein missglücktes Experiment. Aber auch mit missglückte Experimente können Spass machen. Und Kult werden. Dieser Film hat das Potential dazu.

7/10

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