Saturday 4 March 2017

Ma Vie de Courgette (2016)


Über die Kunst, eine neue Familie zu finden

Hier liebt dich niemand mehr“ – nach einem tragischen Unfall verliert der neunjährige Junge Courgette seine Mama und hat fortan keine Eltern mehr. Er landet in einem Heim, das Kinder mit tragischen Familiengeschichten aufnimmt. Zu Beginn ist er alles andere als begeistert, doch nach und nach freundet er sich mit seinen Altersgenossen an. Und wer weiss, vielleicht kann er trotz seines schlimmen Verlustes bald wieder Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben fassen?

Für ein Stop-Motion-Film ohne Altersbeschränkung beginnt Ma vie de Courgette von Claude Barras ausserordentlich düster: Das Drehbuch berührt Themen wie Drogenkonsum, häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch. Auch die Bildsprache wirkt zuweilen trostlos, fast gruselig. Etwa dann, wenn die Bewohner/innen des Heimes mit neidisch leerem Blick ein Kind mit hübscher Mutter taxieren. Die melancholisch schwebenden Rock-Klänge der Schweizer Singer-Songwriterin Sophie Hunger tun ihr Übriges.

Schritt für Schritt jedoch wird der Film heller und leichtherziger: Courgette findet in seinen Leidensgenossen Trost, fasst neuen Mut und verliebt sich (irgendwie) in den Neuzugang Camille. Nach dem traurigen, ungewohnten Einstieg bekommen wir eine typische Montage zum Alltag im Heim. In der Nacht philosophieren die Kinder über das Mysterium des Geschlechtsverkehrs; und das Publikum schmunzelt, fast erleichtert über die Auflockerung.

Die Szenerie von Ma vie de Courgette ist minimalistisch, aber pointiert. Die Farbpalette ist kräftig und abwechslungsreich, wie aus einem Malbuch. Das Figurendesign hat Ecken und Kanten, erinnern entfernt an Adam Elliots Mary and Max (2009). Barras hat hier einen charmanten Look kreiert, der die Figuren greif- und nachvollziehbar macht. Bewegungen und Mimik der Charaktere wurden glaubhaft umgesetzt.

Die grösste Schwäche des Filmes liegt definitiv im Plot. Nachdem uns die Geschichte mit der kargen Ausgangssituation ins kalte Wasser geworfen hat, bewegt sie sich nurmehr gemächlich vorwärts. Die Auseinandersetzung zwischen Camille und ihrer Tante, die sie aus dem Heim holen will, löst sich praktisch von selbst auf; wie auch die Probleme der Hauptfigur Courgette. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein. Hier wünscht man sich, die Drehbuchautorin Céline Sciamma hätte die Konflikte noch näher beleuchtet; das Potential dazu wäre vorhanden gewesen. (Und es ist ja keineswegs so, als wäre der Film mit 66 Minuten Spielzeit überlang.) So ist die französisch-schweizerische Koproduktion eher ein skizzenhaftes Stimmungsbild, als eine Erzählung mit Höhen und Tiefen. Aber was für Bilder hier gezeigt werden! Sie sind schon beeindruckend in ihrer Symbolkraft: Vom Drachensteigen im Auto bis zur gespenstischen, nächtlichen Schneelandschaft.

Ma vie de Courgette hat praktisch keine Spannungskurve; er portraitiert ein Kind, das an einem unverhofften Ort Liebe und Familie findet. Revolutionär ist das nicht, und es wird stellenweise ungeschickt erzählt. Trotzdem: Wann immer ein Film auftaucht, der Kinder und ihre Probleme ernst nimmt, gehört das gewürdigt. Erst recht, wenn er mit künstlerischem Anspruch und französischem Charme auftritt.

7/10

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