Monday 8 May 2017

Enter the Void (2009)

Eine manierierte, audiovisuelle Orgie
(Die nachfolgende Rezension enthält Spoiler.)

Da ihre Eltern bei einem Autounfall starben, sind die Geschwister Oscar und Linda seit Kindesbeinen auf sich allein gestellt. Oscar reist nach Tokyo, um sich dort durchzuschlagen. Immer tiefer verstrickt er sich in der dortigen Drogenszene – bis er selbst zum Dealer wird, um seiner Schwester einen Flug nach Japan bezahlen zu können. In Tokyo angekommen, findet die attraktive Linda schnell eine Stelle als Table-Dancerin. So fristen die beiden Waisen ihr Leben im schmuddeligen Underground der Grossstadt. Bis ein schrecklicher Zwischenfall sie für immer trennen wird.

Enter the Void (2009) ist ein filmgewordener, epileptischer Anfall. Schon die Opening Credits dröhnen und flimmern uns entgegen, als wolle uns der Regisseur Gaspar Noé von der ersten Sekunde an mit Sinnesreizen überschwemmen. Dann werden wir in die Ego-Perspektive Oscars geworfen und dürfen einen hübschen Drogentrip miterleben. Sein Kumpel Alex schaut vorbei und hält freundlicherweise eine Exposition über die Wiedergeburt. Daraufhin betritt Oscar die Bar „Void“ und läuft in eine Falle der Polizei, woraufhin er erschossen wird. Das kommt durchaus überraschend, da die Ego-Perspektive eine längere Bindung zum Körper des Hauptcharakter suggerierte. Danach wabert die Kamera als Platzhalter von Oscars Seele durch den Film, schwebt durch das grelle Tokyo und blendet zurück in die Kindheit unseres Protagonisten.

Was Gaspar Noé hier veranstaltet, sieht Kunst zum Verwechseln ähnlich, ist aber letztlich das genaue Gegenteil davon: es ist Kitsch. Enter the Void versucht mit visuellen Spielereien zu irritieren, die durchschaubar, platt und nichts sagend sind. Nach dem Tod Oscars folgt nicht mehr, als eine direkte Umsetzung dessen, was Alex dem Publikum unnötigerweise bereits erklärt hat. Die Kamera übernimmt die Sicht von Oscars Geist und beobachtet, was nach seinem Tode alles geschieht. Auf dem Papier klingt das wie eine vielversprechende Idee, aber Noé kann ihr nichts Originelles abgewinnen. Was Oscar nach seinem Ableben alles mitbekommt, ist grösstenteils ziemlich öde. Der Plot ist vorhersehbar, die Rückblenden in die Kindheit sind uninspiriert und fast klischiert. Darüber kann auch die aufdringliche „Gespensterkamera“ nicht hinwegtäuschen, zumal sie schon bald wie ein Taschenspielertrick wirkt, den Noé über zwei Stunden lang konsequent zu Tode reitet.

„Wie oft kann sich die Kamera in einer Lichtquelle verlieren oder schwindelerregend über den Strassen Tokyos herum torkeln, bis es nur noch nervt?“ – das scheint die Hauptfrage des vorliegenden Filmes zu sein, und die ist dann doch etwas mager. Offenbar hat sich Noé der Aufgabe verschrieben, Enter the Void zu einem physisch spürbaren Erlebnis zu machen. Das ist ihm gelungen. Zu den Nebenwirkungen dieses Filmes gehören Schwindelgefühle und Kopfweh. Manchmal ist er so grell, dass man die Augen schliessen muss. Als Idee ist das ja nicht uninteressant; und natürlich man sollte ein Werk nicht allein deswegen verurteilen, weil es sein Publikum bewusst quält. Das tun auch Lars von Trier im schonungslosen Drama Dancer in the Dark (2000) oder Kei Fujiwara im perversen Psychohorror Ido (2005). Allerdings stehen hinter diesen Filmen Tragödien, die nicht anders erzählt werden können, als qualvoll. Bei Enter the Void ist die Frustration des Publikums eher Selbstzweck; ähnlich wie bei Nicolas Winding Refns Only God Forgives (2013).

Einige Lichtblicke gibt es. Wann immer Noé sexuelle Themen aufgreift, stellt sich ein greifbares Gefühl ein, das die kühle Fassade des Filmes durchbricht. Eine inzestuöse Beziehung zwischen Oscar und Linda wird regelmässig angedeutet. Wenn Oscars Geist in den Kopf von Lindas Freund schlüpft, während er mit ihr Sex hat, dann ist das eine aufwühlend schauderhafte Idee. Leider wird die gleich wieder links liegen gelassen, weil die nächste Kamera-Achterbahnfart absolviert werden muss … Auch das grosse Finale von Enter the Void hat’s in sich: Hier schickt Noé alle Charaktere in ein Love Hotel und lässt sie’s miteinander treiben. Das ist eine faszinierende Überstilisierung der Sexualität, die mit einem Schock endet: Nämlich damit, dass die Kamera direkt in Lindas Vagina platziert wird, während sie von einem Mann genommen wird. Das ist in einem nicht-trivialen Sinne skandalös. Hier zeigt sich die ultimative Erniedrigung des Publikums; es wird im wortwörtlichen Sinne „gefickt“. In dieser einen Szene kommt Noé der Kunst am nächsten. Leider gleitet er danach sofort wieder im Klischee, indem er Oscar als Lindas Kind eine Wiedergeburt schenkt.

Gaspar Noé vollführt ein selbstgefälliges Film-Experiment, das eine banale Geschichte mit einseitigem Stil erzählt. Enter the Void ist das, was Curt Glaser „sauren Kitsch“ genannt hat. Dieser Kitsch grenzt sich vom Angenehmen ab und fällt ins gegenüberliegende Extrem: Statt dem Publikum zu gefallen, misshandelt er es. Dieser Kitsch ist heimtückisch, insofern er oft erfolgreich so tun kann, als wäre er Kunst. In Wahrheit ist Enter the Void aber nicht viel gehaltvoller, als dezidiert süsser Kitsch wie Beauty and the Beast (2017). Er verdeckt die Leere nur mit pseudo-ästhetischer Augenwischerei. Punktuell mag sich in dieser audiovisuellen Orgie verlieren. Unterm Strich ist sie aber nicht viel mehr als mutiger, manierierter Unsinn.

3/10

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