Lars von Trier und das Ende der Erotik
(Die folgende Rezension enthält leichte Spoiler.)
Der Bücherwurm Seligman trifft des Nachts auf eine Frau: misshandelt liegt sie auf dem Boden einer dunklen Gasse. Sie beschwört Seligman, ja nicht die Polizei einzuschalten. Mitleidig nimmt der ältere Herr die Frau zu sich nachhause, damit sie sich erholen kann. Sie stellt sich als Joe vor und bezeichnet sich mit gewissem Stolz als Nymphomanin. Die Nacht ist noch jung, und Joe hat Einiges zu erzählen. Gespannt lauscht Seligman den gewagten und sonderbaren Geschichten der Sexsüchtigen …
Skandalregisseur Lars von Trier (Idioterne, Antichrist) hat ein besonderes Verhältnis zur Geschlechtlichkeit. Bei ihm ist Sex niemals nur Spass, sondern immer durchtränkt mit Sünde, Gewalt und Verzweiflung. Nymphomaniac greift diesen Nebenstrang seines bisherigen Schaffens auf und widmet ihm einen fünfstündigen Mammut-Film. Die Ausgangslage gibt Anlass zur Sorge: Kann von Trier, der Sexszenen bisher vorwiegend für extreme Schockmomente genutzt hat, das Thema über mehrere Stunden spannungsvoll behandeln? Die Antwort: Ja, er kann. Und er tut das mit einer Subtilität und Vielseitigkeit, die positiv überrascht.
Nymphomaniac tritt uns als zweiteiliger Film entgegen, obwohl er als ein Werk konzipiert wurde. Volume I beschreibt Joes Suche nach immer intensiveren Gelüsten, um in der Katastrophe – der völligen Übersättigung und Gefühllosigkeit – abzubrechen. Volume II zeigt Joes Absturz in die sexuelle Perversion, bei dem die Lust in Selbstzerstörung umschlägt. Von Trier zeichnet einen Epos der Hypersexualität, der an Drastik und Zielsicherheit kaum zu überbieten ist. Allein dafür muss man ihm Respekt zollen, ob man den fertigen Film nun liebt oder hasst. Dieser ist weniger skandalträchtig, als eingangs zu erwarten war: die Sexszenen sind zwar zahlreich und unverblümt, jedoch immer geschmackvoll – jedenfalls in der vorliegenden zensierten Fassung. (Es soll ja noch einen unzensierten Director’s Cut geben. Allerdings ist fraglich, ob dieser der Substanz der Geschichte etwas Neues hinzuzufügen vermag.)
Die sinnlichen Partien des Filmes werden durch philosophische Dialoge zwischen Joe (Charlotte Gainsbourg) und Seligman (Stellan Skarsgård) kommentiert und erklärt. Das Schauspiel Gainsbourgs und Skarsgårds ist exquisit. Die Gespräche machen Nymphomaniac überraschend zugänglich, da mit Seligman jemand mit von der Partie ist, der Joes Provokationen kritisch und intelligent zu hinterfragen imstande ist. Er ist die Stimme der Vernunft, mit der sich das Publikum identifizieren kann. Schon die Rahmenhandlung des Filmes gibt Anlass zu zahlreichen Vergleichen: Joe und Seligman: Die Beichtende und der Pfarrer? Die Hysterische und der Psychoanalytiker? Scheherazade und Schahriyâr? Oder ganz allgemein: Die Frau und der Mann? Die verschachtelte Erzählweise mit doppelten Böden und ironischen Zwischentönen ist ein intellektueller Spielplatz für Psychologie, Philosophie, Gender Studies und Filmwissenschaft.
Letztlich geht es in Nymphomaniac nicht um Sex, sondern um Verzweiflung. Joes Nymphomanie ist nur ein Symptom ihrer Einsamkeit. Die besten Szenen des Filmes sind diejenigen, in denen es emotional ans Eingemachte geht. Wenn Joe mit der Ehefrau einer ihrer Liebhaber (entfesselt gespielt von Uma Thurman) konfrontiert wird, stellen sich einem die Nackenhaare auf. Oder dann, wenn die junge Joe in einer Rückblende dem krankhaften Wahnsinn ihres Vaters beiwohnt. Ja, in der Darstellung existentieller Extremsituationen hat es von Trier wahrlich zur Meisterschaft gebracht. Er sieht gerade da genau hin, wo andere Regisseure lieber wegschauen – oder die Dramatik mit kitschigen Schleifchen umwickeln.
Nymphomaniac scheint das Ende der Erotik zu bezeichnen: Joe behauptet, Sex habe nichts mit Liebe zu tun, und Erotik sei direkte Lusterfüllung. Aber es ist von Anfang an klar, dass Joes Begriffe von Liebe und Erotik völlig absurd sind. Sie versteht gar nicht, was Liebe überhaupt ist. Jedoch sind all ihre Eskapaden von einer geheimen Sehnsucht getragen: dem Verlangen nach Liebe. Und dass das Publikum diese Sehnsucht – zusammen mit Seligman – erahnt, gibt selbst dem leersten Geschlechtsakt, der brutalsten BDSM-Praxis eine traurige Würde. So wird das Ende der Erotik gleichzeitig zum paradoxen Gipfel der Erotik. Wenn Schmerz zu Lust wird, ist der Höhepunkt der Verzweiflung erreicht.
In anderen Filmen wird die Hypersexualität durch die Liebe geheilt – etwa in David Wnendts ausgezeichneter Romanverfilmung Feuchtgebiete (2013), die in vielerlei Hinsicht als Antithese zu Nymphomaniac gelesen werden kann. Bei von Trier bleibt am Schluss nichts als Demütigung, Einsamkeit und Frustration. Nymphomaniac ist die konsequenteste Geschichte einer Selbstzerstörung, die man sich vorstellen kann: komplex, aufwühlend, mutig. Man mag das Gezeigte verachten und als selbstgefällig verschreien. Aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass hinter diesem Film verletzliche, kunstvolle und kluge Ideen stecken.
10/10